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Pascal HartmannEine falsche Welt
 
Erschienen: Intra 82
 

1.

Doktor Philip Braun saß hinter seinem großen, antiken Schreibtisch aus Holz und starrte ins Nichts. Es war ruhig, das riesige Bürogebäude war um diese Zeit menschenleer, seine Sekretärin war längst gegangen. Philip Braun wollte nicht nach Hause, er wollte aber auch nicht arbeiten, er wollte gar nichts, vielleicht sterben. Alles ist ihre Schuld, dachte er, überall spielt sie die arme, schwache Frau und erregt Mitleid. Vielleicht wäre es doch besser, sich von ihr scheiden zu lassen. Sicher, mit ihrer Masche würde sie mir in einem Prozess alles nehmen, aber vielleicht ist das besser, als durch den Anblick ihrer Gebrechlichkeit verrückt zu werden. Ich sollte sie einfach fallen lassen, so wie man ein Paar Schuhe wegwirft, mit dem man ein Stück gegangen ist.
Er stand auf und ging langsam zur kleinen Bar, stand einen kurzen Moment unschlüssig vor den Flaschen und wählte dann ein Gebräu vom Mars, hochprozentig und mit starken Drogen versetzt. Gerade wollte er die Flasche ansetzen, als das Videophon summte. Meine Frau, dachte er, sie spioniert mir wieder nach. Er nahm das Gespräch an. Der kleine Bildschirm erhellte sich, eine Gestalt erschien, es war nicht seine Frau, sondern das unbekannte Gesicht eines jungen Mannes, dessen Züge einen äußerst korrekten und förmlichen Eindruck machten.
"Spreche ich mit Doktor Philip Braun ?" fragte der Anrufer.
"Ja, was wollen sie ?" sagte Braun gelangweilt.
"Äh, hören sie," der Mann konzentrierte sich einen Moment auf das, was er vorbringen wollte. Vor dem Fenster zerschnitten die Rotoren eines Helikopters den Smog, grelles Scheinwerferlicht huschte durch sein dunkles Büro.
"Ich bin Kommissar Scheldrich von der 34. Polizeistation, ihre Nummer gab mir die SAUGM, sie haben heute Dienst, was sie sicher nicht wissen."
"Tatsächlich?" sagte Braun schlaff. Dunkel erinnerte er sich an eine Klausel in dem Vertrag, den er nach Abschluß seines Studiums mit der SAUGM geschlossen hatte. Darin hatte er sich verpflichtet, alle paar Wochen bei Notfällen außerhalb der Praxisstunden psychologische Hilfe zu leisten. Er hatte der Klausel nie Bedeutung beigemessen, auch war er bis zu heutigen Tag nie deswegen angehalten worden. Mit dem staatlichen Amt zur Untersuchung geistiger Mündigkeit stand er seit Jahren nicht mehr in Kontakt, die finsteren Machenschaften der weltumspannenden Organisation weckten Skrupel in ihm. Trotzdem war er Mitglied, wäre er es nicht gewesen, hätte er keine Chance als Psychiater gehabt. So bezahlte er seine Beiträge und bezog die Monatszeitschrift; er war eines von Millionen passiven Mitgliedern. Inzwischen brach der Redefluß des Kommissars nicht ab, er hielt ein bedrucktes Papier in die Optik und Braun konnte auf seinem Bildschirm kein Wort lesen.
"Sehen sie: heute ist der 20. und hier steht es, sie haben Dienst. Ich denke mir, daß ihnen das ganze ein wenig seltsam vorkommt, aber wissen sie, unser Psychologe liegt im Krankenhaus und so sind wir derzeit auf die Bereitschaftspsychologen angewiesen."
Philip Braun hätte Lust gehabt, dem Kommissar das Leben zur Hölle zu machen, ein paar Sitzungen und der Schwafler würde sich selbst nicht mehr kennen. Darin war er gut.
"...nun, sie sind verpflichtet, diesen Plan einzuhalten und desshalb bitte ich sie, so schnell wie möglich hierher zu kommen."
Dann noch lieber nach Hause zu meiner Frau, dachte Philip.
"Ich habe keine Zeit." sagte er.
"Sie müssen." sagte der Kommissar, knapp und nun reserviert.
"Ich muß gar nichts," sagte Braun müde. Er trank aus der Flasche.
"Paragraph 33 Abachnitt B1 des..." der Beamte hielt einen Vortrag über Mediziner, zu denen das Gesetz auch die Psychologen zählte, ihre Pflichten und Ihre Verantwortlichkeiten und die Strafen, die diese bei Mißachtung der Pflichten und Verantwortli chkeiten zu erwarten haben. Philip trank wieder von dem marsianischen Getränk und sagte dann schon leicht beschwipst:
"Ich komme schon sie Sesselpupser". Dann brach er die Verbindung ab. Er schüttelte den Kopf, drückte die Rücklauftaste seines Videophones und spielte die letzten Sekunden des Gesprächs noch einmal ab.
"...ist dazu verpflichtet, Hilfe zu leisten. Im Falle einer Verweigerung kann der Angeklagte mit Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe..."
"Ich komme schon. sie Sesselpupser." Ende.
Er hatte es gesagt, Sesselpupser, zu einem Polizeikommissar. Du Idiot, dachte er. Er fragte sich, ob es nicht besser wäre, dem Kommissar noch einmal anzurufen, um sich zu entschuldigen. Er entschied sich dagegen. Eigentlich, dachte er, war der Kommissar wirklich ein Sesselpupser.
Wieder summte das Videophon, diesesmal war es seine Frau. Er versuchte ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen.
"Wo bleibst Du denn so lange. Philip?"
"Ich muß noch weg," sagte er.
"Was heißt weg?"
"In die 34. Polizeistation."
"Was machst Du dort?"
Er erklärte es ihr, so gut er noch konnte. Als er mit seinen Ausführungen am Ende war, sagte sie: "Du gehst doch sicher nur in den nächsten Puff und läßt Dir einen blasen!"
Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen. Er haßte es, wenn sie heulte. Frauen heulen immer, wenn Ihnen nichts anderes mehr einfällt. Und seine Frau war in dieser Beziehung besonders schlimm. Sie konnte gar nicht wissen, ob er Bordelle besuchte, aber sie unterstellte es ihm. Sie erzählte es Ihren wenigen Freundinnen und die wieder ihren Freundinnen und alle Freundinnen ihren Männer und die wiederum fragten ihn geil lächelnd nach den besten Adressen. Meine eigene Frau ist mein schlimmster Feind, dachte er.
Er wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte und sagte ihr dann, sie solle nicht auf ihn warten, er wüßte nicht, was er zu tun habe und wie lange es dauern würde. Sie legte einfach auf. Was habe ich denn nun schon wieder falsch gemacht, dachte er wütend. Ihre letzte Waffe, ich soll mich schuldig fühlen. Einen Scheiß werd' ich. Er setzte noch einmal das göttlichen Gebräu vom Mars an, nahm dann seinen Mantel vom Haken, befahl dem Licht, auszugehen und schloß die Türe mit seinem persönlichem Code und seinem Fingerabdruck.
In der Tiefgarage stieg er in seinen Wagen, gab das Ziel in den Computer und lehnte sich zurück. Die dunklen Wände der Tiefgarage sausten an den Fenstern vorbei, als der Wagen beschleunigte. Er schoß auf die belebte Straße hinaus und reihte sich in den dichten Verkehr ein. Braun regelte die Luftzufuhr, die aus einer Gasflasche im Kofferraum gespeist wurde und atmete tief den unverbrauchten, reinen Sauerstoff aus den Bergen ein. Durch die getönten Scheiben hindurch sah er die Menschen auf den Gehsteigen, die Penner in den Ecken und die Huren, die ihre Körper für wenig Geld, gerade genug für den nächsten Schuß, anboten. Er hatte keine Zeit für solche Abenteuer und ihm war auch nicht danach. Irgendetwas deprimierte ihn, aber er wußte nicht was. Er schaltete den Fernsehprojektor an und seine Windschutzscheibe verwandelte sich in einen Monitor. Ein Musikvideo, sphärische Klänge, die eine simple, elektronische Melodie untermalten, dazu künstliche Bilder, Formen aller Art, die verschmolzen und sich neu zusammensetzten. Ein anderer Kanal brachte Nachrichten, in einem anderen Kanal kopulierten zwei Menschen. Die Art wie das Licht auf ihre Haut fiel, die Wellen der Extase, die sie beide nach und nach erbeben ließ, die Ästhetik der sich aneinader reibenden Körper, dazu die Musik, das alles gab es nicht, das alles war eine Illusion. Filme waren nichts anderes als bewegte Momentaufnahmen, Situationen, Ausschnitte, immer das Schönste, immer die beste Perspektive. Aber die Wirklichkeit war anders und würde es diese verlogenen Traumwelten nicht geben, vielleicht wäre vieles einfacher. Dennoch erregten ihn die schwitzenden Körper, der glänzende Busen der Frau, die harten Brustwarzen. Vielleicht sollte ich mich dafür hassen. Der Film endete mit einem leidenschaftlichen Kuß, ein Happy End, was sonst. Im Leben gab es keine Happy Ends, es gab nie ein Ende. Was geschieht mit dem Paar aus dem Film nach diesem Kuß ? Es wird keine Antwort darauf gegeben, wohlweißlich, denn ansonsten wäre die Illusion keine Illusion mehr. Ich habe sie einmal geliebt, schoß es ihm durch den Kopf. Als wir noch jung waren haben wir uns wirklich geliebt.
Ein anderer Kanal übertrug live Bilder aus dem pakistanisch - indischen Krisengebiet, Bilder von unkenntlichen Leichen und schreienden Menschen, von verstümmelten Kindern und verzweifelten Müttern. Doch Krieg ist anders, dachte er betrübt. Krieg heißt dreihundervierundsechzig Tage im Jahr eine einzige Granate zu fürchten und dann, am dreihundertfünfundsechzigsten Tag, schlägt sie ein und man würde erleichtert sein, wäre die Trauer um die Toten und Verwundeten, die diese eine, kleine Granate mit sich brachte, nicht unendlich viel größer. Und nach dieser Granate wartet man wieder, Monate, manchmal Jahre, ständig in Furcht, auf die nächste Granate.
Das Fernsehen ist unser Auge in die Welt, doch dieses Auge betrügt uns. Nichts ist, wie es ist. Alles was ich denke ist falsch,
dachte Philip Braun plötzlich. Einen kurzen Moment nur verschwand die Oberflächlichkeit und er sah kaum faßbare Wahrheiten, Wahrheiten über sich und anderes, doch er konnte keine halten, nur erahnen, daß nichts von dem was er war, diese Wahrheiten verkörperte. Mein gesamtes Leben ist eine Fehlentwicklung, dachte er, das ist es nicht, was ich sein will. Meine Persönlichkeit ist ein Konstrukt, der Versuch es allen recht zu machen, überall Eindruck zu hinterlassen. Der Versuch jede Frau zu beeindrucken, damit sie mich will. All die Dinge, die mich umgeben, mein zur Geltung kommender Charackter, was bin ich davon? Was bin ich? Die Flasche hatte er mitgenommen, sie lag neben ihm auf dem Sitz. Die rote Flüssigkeit in ihr, gemischt in unterirdischen Katakomben des Mars, schwabte im Rhytmus der Fahrt. Eine ganze Flasche von dem Zeug würde die Lichter verlöschen. Ein Ausweg aus der Sackgasse, in die ihn sein Leben geführt hatte. Draußen zogen die schwarzen Häuser vorbei. Prostituierte hielten nach Freiern Ausschau, eine Schaar grölender Radikaler in ihrer Gruppenuniform, bewaffnet mit Knüppeln streifte pöbelnd durch die Straßen. Alles hatte sich in einer Sackgasse verfahren, dachte Braun, nichts stimmt mehr, alles hat seine ursprüngliche Bestimmung vergessen, mutierte und stirbt nun. Mein Verstand zwingt mich, diesen Untergang mit anzusehen und meine Gleichgültigkeit hindert mich, zu verändern. Zu erkennen ist die wahre Qual. Er hatte die Flasche in die Hand genommen und den Verschluß entfernt. Der süßlichherbe Geruch breitete sich in der Fahrzeugkabine aus und vermischte sich mit dem reinen Sauerstoff aus der Flasche. Seine viel zu alte Hand schloß sich enger um den Hals der Flasche.
Im Fernsehen humpelte ein schwarzes Kind auf zwei provisorischen Krücken aus Holz gestützt. Einen Fuß hatte es durch eine Miene verloren, auf das das Kind beim Spiel getreten war, eine Mine die in einem Krieg gelegt worden war, der bereits beendet war, als das Kind noch gar nicht geboren war. Das Kind lächelte hoffnungsvoll.

2.

Kommissar Scheldrich hatte gerade einen seiner Untergebenen damit beauftragt, eine neue Runde Kaffee zu besorgen, als es an der Tür klopfte und der Mann eintrat, der ihn vor ungefähr einer Stunde 'Sesselpupser' genan nt hatte. Er erhob sich und wollte strenge Töne anschlagen, doch als er in das Gesicht des Psychologen sah, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Das Gesicht Brauns trug einen Ausdruck von allertiefster Ernsthaftigkeit, seine Augen standen starr und bewegten sich kaum, schienen aber dennoch jede Einzelheit in dem kleinen Raum zu erfassen. Solch eine starke Ausstrahlung ging von Philip Braun aus, daß es still geworden war in dem kleinen Raum, in just dem Moment, als er eingetreten war.
"Guten Abend, Herr Braun," sagte Kommissar Scheldrich und war plötzlich fest davon überzeugt, daß es sich bei dem Minenspiel des Psychologen nur um einen Trick handle, mit dem er einer Anklage wegen Beamtenbeleidigung entwischen wollte.
"Guten Abend, Herr Scheldrich," sagte Braun mit ernster Stimme. Dann deutete er durch die große Sichtscheibe in den Raum, der dahinter lag, auf den Mann, der alleine, rauchend am Tisch saß.
"Ich nehme an, daß dies mein Patient ist," stellte er fest. Scheldrich nickte. Ein Mann mit einem Tablett vollgestellt mit Kaffeebechern trat durch die Türe. Jeder der Männer nahm sich einen Becher.
Braun fiel ein Mann in dunklem Anzug auf, der an der Wand gelehnt zu beobachten schien. Keinesfalls gehörte er zum Stab Scheldrichs, seine Bewegungen waren knapp bemessen, sein Gesichtsausdruck eine genau einstudierte Maske und er sprach mit keinem der übrigen Menschen im Raum. Ein Mann vom Geheimdienst, dachte Braun SAUGM oder SAFOUG. Die staatlich Abwehr feindlicher Organe und Gedanken hatte nahezu überall ihre Finger mit drin. Er erinnerte sich an den Tag, als sie in seiner Praxis aufgetaucht waren und ihn zwangen, eine Patientin Namens Doris Maier nicht weiter zu behandeln. Ohne eine amtliche Genehmigung vorweisen zu können, alleine mit ihren Waffen als Argument, die sie offen im Gürtel trugen, brachten sie ihn dazu, die Akten Doris Maiers herauszurücken. Er gab sie ihnen widerstandslos und sie nahmen sie mit. Sobald sie draußen waren, rief er bei ihr an und sagte, sie solle niemals wiederkommen. Er haßte die Geheimdienste.
Scheldrich hatte inzwischen eine Mappe mit wenigen Blättern geholt und überreichte sie Braun. Der Geheimagent verfolgte jede Bewegung im Raum wie ein Habicht, ein Vogel, der sich auf kleinere Vögel gestürtzt hatte.
Der Name des Patienten oder Gefangenen war Sven Jüngst, allerdings stand hinter dem Namen ein Fragezeichen. Er sprach den Kommissar darauf an.
"Nun wissen sie," begann dieser "dabei handelt es sich um unser ganzes Problem. Der Mann tischt uns eine Geschichte auf, die wir nicht ad absurdum führen können, wie wir es normalerweise tun, nein, die Geschichte ist ungeheuer logisch und dennoch unmöglich."
"Und worin besteht nun meine Aufgabe," fragte Braun mißtrauisch. Er bemerkte den unsicheren Blick, den Kommissar Scheldrich dem Mann im Anzug zuwarf.
"Sie sollen uns nur bestätigen, daß der Mann nicht alle Sinne beisammen hat, so daß wir ihn in einen anderen Zuständigkeitsbsreich überführen können." Er hielt ihm ein Klemmbrett mit Formular hin. Ein Kreuz zeigte, wo er zu unterschreiben hatte. Er beachtete den Kugelschreiber, den einer der Männer ihm geben wollte nicht und schob das Klemmbrett beiseite.
"Dazu muß ich mit ihm sprechen," sagte Braun.
Wieder warf Scheldrich dem Geheimagenten einen Blick zu.
"Natürlich," sagte er dann.
"Warum ist die Geschichte des Mannes nicht möglich," fragte Braun, als sie das Zimmer wechselten, wozu sie einen engen Gang durchqueren mußten.
"Er behauptet aus einem Ort Namens Frankreich zu kommen..." sagte der Kommissar.
"Frankreich?" fragte Braun und konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen, er hatte mit mehr als einem plumpen Lügner gerechnet. Vielleicht mit einer Chance.
Auf dem Tisch in der Zelle stand ein Mikrophon und das Kabel führte zu einem Aufzeic hnungsgerät in der Zimmerecke. Der große Spiegel, der eine Wand des Zimmers bekleidete, war das Fenster in den anderen Raum. Braun meinte die Blicke des Geheimdienstmannes auf sich gerichtet zu spüren. Er wußte, daß er sich auf dünnem Boden bewegte. Nicht ohne Grund war Scheldrich der Ansicht gewesen, daß eine bloße Sichtung der Gesprächsnotizen genügen müßte, um den Mann durch eine Unterschrift des Psychiaters Braun in einer Nervenheilanstalt verschwinden lassen zu können. Früher hätte ich diese Unterschrift ohne zu zögern gegeben, dachte Braun. Der Mann vom Geheimdienst formulierte im Geiste sicherlich schon den Bericht, den er einreichen würde. Übertriebene Anteilnahme, verdächtige Anteilnahme, Behinderung des Wahrheitsfindungsprozesses, unnötige Zeitverschwendung, unkooperatives Verhalten, verdächtiges Verhalten, bedenkliches Verhalten; es gab der Formeln genug, die einem Menschen das Genick brechen konnten. Diesesmal wollte Philip Braun einiges besser machen. Ich befinde mich nur in einem Zusatnd geistiger Umnachtung, wegen der Krise, die ich vorhin im Auto hatte, ich werde meine Handlungsweise bereuen. Da war sie wieder, die alte Berechnung, die alte Gleichgültigkeit, die Verschlagenheit und Lieblosigkeit, mit der er sein Leben bestritt. Doch noch hielt der Zustand geistiger Umnachtung an und er fühlte Glück in sich. Er rückte einen Stuhl heran und setzte sich dem Mann gegenüber. Dieser rauchte, der Aschenbecher auf dem Tisch war schon voll.
"Könnte ich auch eine Zigarette haben ?" fragte Braun.
Der Mann hob den Kopf. Philip Braun blickte in dunkle Augen, die die Welt nicht mehr verstanden.
"Selbstverständlich, schließlich hat man sie mir hier gegeben." Er streckte Braun die Schachtel hin, dieser fischte ungeschickt eine Zigarette daraus hervor und steckte sie an. Sie rauchten schweigend einige Züge.
"Erzählen sie mir, wie sie in diese Lage gekommen sind." begann Philip Braun das Gespräch.
"Das habe ich ihren Kollegen schon dutzende Male erzählt," antwortete der Mann.
"Ich bin Doktor Philip Braun, Psychologe, nicht Polizeipsychologe. Ich habe die Männer in dieser Polizeistation nie zuvor gesehen, sie sind nicht meine Kollegen. Außerdem habe ich mir keine der Gesprächsnotizen bisher angesehen." Kein Mensch beginnt wegen so eines dummen Geschwafels zu reden, dachte Braun. Der Mann, der ihm gegenüber saß, tat es.
"Ich heiße Sven Jüngst. Ich war auf der Heimreise, zurück von Frankreich. Ich übernachtete in einem Hotel, als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah alles anders aus. Ich weiß nicht wieso und zuerst machte ich mir auch nicht zuviele Gedanken deswegen, die machte ich mir erst, als mich eine Streife anhielt und nach meinen Papieren fragte."
"Was taten sie?"
"Ich zeigte meine Papiere und man sagte mir, daß dies die schlechtesten Fälschungen seien, die man je gemacht habe, und verfrachtete mich hierher, wo ich seit zwölf Stunden oder so sitze."
Der Mann wirkte nicht wie jemand, der log. Möglicherweise eine ausgeprägte Schizophrenie.
"Wo wohnen sie?"
"In Stuttgart."
"Wo ist Stuttgart?"
"Was heißt das..." stotterte Sven Jüngst. "Sie wissen nicht, wo ... Stuttgart liegt? Wo bin ich hier ?" Der Mann war vollkommen aus der Fassung.
"In der 34. Polizeistation." versuchte Philip Braun den Mann zu beruhigen.
"Nein." stotterte dieser, "ich meine, welches Land?"
"Das Ostreich."
Das Gespräch verlief ungewöhnlich. Es stellte sich heraus, daß der Mann keine Ahnung von der Welt hatte und der Psychater Philip Braun fand keinen Anhaltspunkt, der ihm gezeigt hätte, daß der Mann sich seine Geschichte ausdachte. Die Verzweiflung, die Angst, die Orientierungslosigkeit, das alles war überzeugend. Braun stellt e immer häufiger Fragen, fragte nach Namen, nach Regeln, nach Merkmalen, nach Gesetzen, die die Welt Sven Jüngsts auszeichneten. Der Mann beantwortete jede seiner Fragen gewissenhaft und natürlich. Dennoch kamen sie nicht weiter. Schließlich öffnete sich die Türe und der Geheimagent kam herein. Er stellte sich neben den Tisch, hielt mit seiner behaarten, kräftigen Hand das Mikrophon zu und sagte: "Sie hatten lange genug Zeit, Doktor Braun, es ist an der Zeit die Einweisungspapiere zu unterschreiben." Braun wurde das Herz schwer, er betrachtete den Mann, der ihm nervös gegenüber saß und empfand Mitleid. "Nein," sagte er dann langsam, "das werde ich nicht tun."
Schweigen. Die Hand des Geheimagenten, die noch immer das Mikrophon umschlossen hielt, verkrampfte sich merklich.
"Sie werden die Konsequenzen zu tragen haben," keuchte er und verschwand.
"Danke." sagte Jüngst.
"Sie werden einmal die Woche in meine Praxis kommen und ich werde sie eingehender untersuchen."
"Danke," sagte der Mann noch einmal.
"Ist schon gut." sagte Braun. Er konnte nicht glauben, daß er es wirklich getan hatte. Damit war seine Karriere wohl zu Ende. Ein Patient nach dem anderen würde abspringen, in den Zeitungen würden Meldungen über ihn erscheinen, die einfach unwahr sein würden, man würde ihn in aller Öffentlichkeit lächerlich und unmöglich machen. Die Geheimdienste hatten Mittel und Wege, Menschen zu ruinieren.
"Ihre Welt ist falsch," sagte Jüngst. Braun blickte auf, für einen Moment sahen sie sich direkt in die Augen.
"Es ist ihre und meine Welt," sagte Braun.
"Ich habe keine Erinnerung an diese Welt. Alles was ich von ihr kenne ist diese Polizeistation. Das ist nicht meine Welt."
"Meine ist es auch nicht." sagte Braun leise.

3.

Er hatte veranlaßt, daß Sven Jüngst auf freien Fuß gesetzt wurde. Kommissar Scheldrich hatte sich gesträubt und dabei den Agenten, der an einem Tisch saß und leise seinen Bericht in ein Aufnahmegerät diktierte, im Auge behalten. Die Kaution hatte er hinterlegt. Er hatte Gedächtnisverlust mit Folge einer schizophrenen Persönlichkeitsentwicklung diagnostiziert. Damit hatte er Jüngst die Mündigkeit aberkannt, anders war es nicht möglich, ihn aus dem Gefängnis fern zu halten. Gefälschte Papiere waren keine Bagatelle. Anscheinend leiden alle an diesem Gedächtnisverlust, dachte er. Er dachte nach, über sich und das was aus ihm geworden war, seine Neigungen, seine Angewohnheiten, seinen Alkoholismus. Und er dachte über das nach, was die Zukunft bringen würde. Nichts Gutes, fürchtete er, aber es würde besser sein. Auf den Gehsteigen schoben sich die Menschen vorwärts. Eine anonyme Masse. Wenn es zu Zeiten der Propheten bereits Städte gegeben hätte, hätten sie sich nicht in die Wüsten zurückgezogen, sondern in die Städte, denn nirgendwo ist man so alleine wie in einer Stadt. So vieles war falsch. In diesem Augenblick sah er alles in unglaublicher Schärfe und war davon überzeugt, die Wahrheit zu sehen. Die Gedanken in seinem Kopf waren schwer faßbar aber von ungeheurer Logik. Er erkannte, daß er selbst ein Konstrukt war und hoffte, wenigstens dies ändern zu können. Realistisch genug war Philip Braun, um erkennen zu können, daß er an der Welt kaum etwas verändern würde können. Dennoch würde er all seine Energie darauf verwenden.
Er wählte eine Nummer. Es dauerte eine ganze Zeit, bis das Gespräch angenommen wurde.
"Hallo ?" fragte ein verschlafene Stimme.
"Hallo Angela," sagte Philip.
"Philip ?" sagte sie.
"Ja, ich bin es," antwortete er.
"Warum rufst Du an ?" fragte sie. Ihre Stimme kratzte und die Worte sprach sie langsam, er hatte sie geweckt.
"Ich komme nach Hause." sagte er.
"Und d eshalb rufst Du an?"
"Ja," sagte er, "wir sollten reden."
"Na dann bis nachher." sagte sie und legte auf.
Ein Lächeln huschte über seinen Mund. Er suchte nach Zigaretten, fand eine alte Schachtel im Handschuhfach und steckte eine an. Draußen brannte Feuer in Fässern und Menschen wärmten sich daran auf. Philip Braun stellte die Lüftung ab und öffnete das Fenster. Der teure, reine Sauerstoff drang durch das Fenster nach außen und die qualmige Luft nach innen. Er dachte an das hoffnungsvolle Lächeln des Jungen im Fernsehen. Vielleicht gab es ihn gar nicht, vielleicht war es nur eine gestellte Szene gewesen, ein Bild um Quoten zu fangen. Doch ihm war dies egal. Es war unwichtig. Er fuhr durch die Nacht nach Hause. Es gab viel zu bereden. Sehr viel.

ENDE


(c) Pascal Hartmann Mai 1996