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Kim Stanley RobinsonIcehenge
 
Roman, London 1997, Voyager (www.harpercollins.co.uk/voyager), 262 Seiten
 
Rezensent: Reimer Musall
 
Der für seine Mars-Trilogie mit Preisen überhäufte Robinson ist, wie dieser Roman aus dem Jahre 1984 beweist, keine Newcomer im Sinne des Wortes. Im Gegenteil, vorliegendes Buch bietet - aus heutiger Perspektive - viele Anhaltspunkte für die drei Mars-Romane.
In "Icehenge" entwickelt Robinson ein Gespinnst scharfsinniger Ideen und Wendungen um ein Monument aus Eisblöcken - Icehenge. Dieses wurde auf dem Pluto, direkt an dessen Nordpol, entdeckt, und die Frage stellt sich, wer es dort errichtet hat. Denn einer der Eisblöcke trägt eine Inschift in Sanskrit.
Der Roman ist in drei ziemlich gleich lange Abschnitte unterteilt. Er beginnt 2248, wenn der Leser durch die Augen und Ohren einer Emma Weil Zeuge einer Raumschiffrevolte wird. Wichtig ist, daß die Handlung nicht auf der Erde stattfindet, sondern der Mars und seine neuen Bewohner die Figuren bilden. Es war also ein "marsianisches" Raumschiff, das gekapert wurde, um dem Unterdrückungsregime auf dem Planeten des Kriegsgottes zu entgehen und eine neue Zukunft zu bauen. Emma entwickelt Sympathien für die Revolutionäre, schließt sich ihnen am Ende aber nicht an, sondern kehrt zum roten Planeten zurück, wo gerade ein Bürgerkrieg tobt. Wichtig ist weiterhin, daß durch die moderne Medizin die Lebenserwartung auf durchschnittlich 1000 Jahre angewachsen ist.
Der zweite Teil spielt 2547. Der Archäologe Hjalmar Nederland bekommt die Genehmigung, in den Ruinen einer Stadt auf dem Mars, die während des Bürgerkrieges samt Einwohnern vernichtet wurde (offiziell von den Aufständischen, Gerüchten nach aber beim Sturm der Regierungstruppen), Ausgrabungen durchzuführen. Zu Beginn scheint es nicht so recht voran zu gehen, aber nach einem Sandsturm findet man ein altes Fahrzeug in geringer Entfernung zum Stadtgebiet, und darin befindet sich ein Tagebuch von Emma Weil. Nederland - der nebenbei ein rechter Eigenbrödler und Exzentriker ist - gerät in einen wahnartigen Zustand, weil er in dem Tagebuch Hinweise auf ein Vorhaben der Meuterer findet, ein Monument für die Menschheit zu errichten. Seine Thesen setzen sich nach einigem Anfangswiderstand schließlich durch, der endgültige Beweis für die Autentizität der Unterlagen kann aber nicht erbracht werden.
Genau darum geht es im abschließenden Teil, der 2610 spielt. Edmond Doya, entfernter Nachfahre Nederlands, stößt im Laufe seiner - zu Beginn als Hobby durchgeführten - Studien auf Ungereimtheiten in der Beweiskette Nederlands. Dieser, inzwischen eine Art graue Eminenz auf diesem Gebiet, steht den Nachforschungen und kritischen Hinterfragungen abweisend gegenüber. Doya erreicht letztendlich aber doch, daß eine Expedition zum Pluto ausgerüstet und auf den Weg gebracht wird, und er selbst kann an der Expedition teilnehmen. Ich will das Ende hier nicht verraten, aber es ist ein gelungenes Finale, das noch einige Überraschungen für den Leser bringt.
Stilistisch ist das Buch äußerst dicht, Robinson schreibt alle drei Hauptfiguren aus der Ich-Perspektive. Der Leser bekommt durch geschickte Schilderungen das Gefühl vermittelt, die Personen in ihrer jeweiligen Kulisse agieren zu sehen (Mars, Raumschiff, Pluto u.a.). Die Charaktere sind sehr tief und facettenreich ausgearbeitet, haben Träume und Ängste, lieben und hassen, faszinieren den Leser und stoßen ihn wieder ab - kurzum, sind echte Persönlichkeiten. Und auch die Nebenakteure sind ausreichend dargestellt, so daß sie nicht zu einfachen Schablonen verkommen.
Dem frühen Entstehungsjahr des Romans geschuldet ist die Bipolarität zwischen Russen und US-Amerikanern. Der Konflikt ist aber nie der zwischen Gut und Böse, sondern zwischen zwei mehr oder weniger üblen Regimen, die zwar pro forma nichts zu sagen haben auf dem Mars, de facto aber auch dort entscheidend mitmischen. Somit wird ein Thema des Buches die Auseinadersetzu ng des Individuums mit einem quasi allmächtigen Apparat. Das dieser Konflikt eher am Rande steht, verstärkt seine Eindringlichkeit weit besser, als es eine direkte Einbeziehung in den übrigen Kontext vermocht hätte.
Hauptthema des Romans ist aber die Suche nach Wahrheit und die Frage, was der Mensch als einzelner oder als Kollektiv überhaupt wissen kann, welche Grenzen es gibt, wo dem Geist Barrieren gesetzt sind. Es geht darum, was Geschichte ist, wie sie entsteht und fortgetragen wird. In diesem Sinne ist es ein philosoplisches Buch.

"History is made by the winners, after all; and it is always the loser's fault."

"Our lives are plants, creating leaves and flowers that fall away and are lost forever."

"In the begining was the dream, and the work of disenchantment never ends."