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Salman RushdieDes Mauren letzter Seufzer
 
Roman, The Moor's Last Sigh (1995), ungekürzte Taschenbuchausgabe, München 1998, Knaur TB 60704 (erstmals auf Deutsch 1996 bei Kindler, München), ISBN 3-426-60704-2, aus dem Englischen von Gisela Stege, Umschlagillustration: Dennis Leigh, 1990, 619 Seiten.
 
Rezension: Peter Herfurth-Jesse
 
Von Salman Rushdie reden heißt immer auch von der Fatwa reden, jener 1988 von dem greisen iranischen Religionsführer Khomeini wegen dem angeblich blasphemischen Roman "Die Satanischen Verse" verhängten Todesdrohung. Rushdie lebt seitdem bekanntlich an unbekanntem Ort unter dem Schutz englischer PolizistInnen. Von Rushdie reden heißt damit auch von profitablen Wirtschaftsbeziehungen gerade der hiesigen Wirtschaft reden und von unter dem vorgeblichen Motto eines "kritischen Dialoges" ungetrübt unterhaltenen diplomatischen Beziehungen sämtlicher Bundesregierungen seither mit dem Mullah-Regime.
Erst wenn dies erledigt ist, können wir uns dem jüngsten Roman eines der wort- und bildgewaltigsten Schriftstellers unserer Zeit zuwenden, "Des Mauren letzter Seufzer", einem umfangreichen Familienepos, das durchaus nicht nur insgeheim die Folie für eine Geschichte des Staates Indien darstellt, die "kritisch" zu nennen eine grandiose Untertreibung wäre. Nein, Rushdie hat offenbar immer noch nicht vor, sich ohne Not bei irgendwelchen Mächten oder Mächtigen beliebt zu machen.
Ein Kritikerkollege schrieb jüngst von der "Bereitschaft" des langjährigen Werbetexters, "das "Große Romanthema" anzureißen und dann darunter durchzuschlüpfen, um sich hemmungslos und anstößig den ins Kraut schießenden Momenten der Aufhebung jeder "Großen Handlung" zu überlassen - ohne daß sie ein "verspielter" Scheiß wird, denn der dicke Hammer namens Welt hängt immer noch über allem, nur läßt sich die Story nicht davon erschlagen." (Dietmar Dath, Der Kriegsgefangene, in: Spex Nr.218,1/99). Bei Rushdie stellt sich eben immer wieder die Frage, was nun im Vordergrund seines unbestreitbaren Talents steht, das Erzählen einer Geschichte oder eben das Erzählen an sich, das Absondern oftmals bandwurmähnlicher Satzgebilde, getragen von einem Crescendo wuchtiger, poetischer, gewaltiger Worte, gespickt mit saftigen Bildern. Ein Beispiel:
"Im Februar 1946, als Bombay, dieses superbreite Filmepos von einer Stadt, über Nacht durch den großen Seemanns- und Landrattenstreik in eine reglose Standaufnahme verwandelt wurde, als die Schiffe nicht ausliefen, der Stahl nicht gekocht wurde, die Textilstühle weder ketteten noch schußten und es in den Studios weder Turnovers noch Cuts gab - damals begann die einundzwanzigjährige Aurora in ihrem berühmten, mit Vorhängen ausgestatteten Buick in der gelähmten Stadt umherzuschweifen, ihren Chaffeur Hanuman mitten ins Zentrum der Aktivitäten oder vielmehr der großen Inaktivitäten zu dirigieren und sich von ihm vor einem Fabriktor oder einer Schiffswerft absetzen zu lassen, um dann allein, nur mit einem hölzernen Klappstuhl und einem Skizzenblock bewaffnet, ins Elendsvienel Dhanavi, die Rum-Spelunken von Dhobi Talao und die neonbeleuchtete Fleischbeschau der Falkland Road vorzudringen." (S. 184f)
Rushdies Prosa trägt die Gerüche des Orients mit sich, etwa - passend für die Geschichte einer Dynastie ursprünglicher GewürzhändlerInnen - von Pfeffer und Kardamon, und benutzt - sein Hauptdarsteller hat immerhin eine berühmte Malerin zur Mutter - die gesamte Farbpalette von Stadt, Land und die der Künstlerin sowieso. Der in Bombay geborene und in Pakistan aufgewachsene britische Staatsbürger läßt sich viel Zeit, zweihundert Seiten braucht er schon, um nur bis zur Geburt seines Protagonisten vorzudringen, aber es gelingt ihm, in dem Leser ein Gefühl wachzurufen, als würde ihm dieses von brutaler Vitalität überflutete Indien tatsächlich vertrauter.
"Des Mohren letzter Seufzer" ist das Epos vom Aufstieg und Fall einer Dynastie wirtschaftskrimineller Händler in einem korrupten Land der "Dritten" Welt. Im Zentrum des Wirbelsturms steht ein mißgebildet auf diese Welt geworfener Mann, dessen Schicksal es ist, mit dem Doppelten der unter Menschen gewöhnlichen Geschwindigkeit zu altern. Ein Mann, der es im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Privilegiertheit und biologischem Fluch versäumt, seinen eigenen Standort in der Welt zu finden und so zum Spielball zumeist destruktiver politisch-krimineller Kräfte wird, die Rushdie vor unseren Augen lebendig werden läßt. Ein Mann, der (wie seine Familie) Gelegenheiten verstreichen läßt und in einem Maß Schuld auf sich lädt, daß am Ende sein grausames Schicksal (wie das seiner Familie) nicht einmal unverdient erscheint.
"Des Mohren letzter Seufzer" von 1995 wird nie wirklich die (zuerst noch angerissene) Geschichte eines Mitläufers in einer kryptofaschistischen Hindupartei, sondem ist eine Serie von waghalsig zusammenhangsfeindlichen Auftritten zahlloser Stimmen im Dauerstimmbruch, Monologen, schiefen Absichtserklärungen - es ist, als ob Rushdie den Kriegsdienst für eine jeweilige Idee immer erst verweigert, wenn er sich schon an die Front begeben hat. So wird er dann zum Kriegsgefangener seiner eigenen unsichtbaren Themenarmee, wie er politisch auf völlig unklare Weise ein Gefangener des "Osten" im Westen ist." (Dietmar Dath, a.a.O.)


Kurzum: Rushdie hat erneut einen zutiefst moralischen Roman vorgelegt - immer getreu Erich Kästners berühmter Devise, daß der angestammte Platz des Moralisten immer der zwischen allen Stühlen sei.