Frameset nachladen
 
Ian McEwanSchwarze Hunde
 
Roman, Black Dogs (1992), deutsche Erstausgabe, Zürich 1994, Diogenes Verlag, ISBN 3-257-06007-6, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Umschlagillustration: Hieronymus Bosch, DM 34,00, 272 Seiten, Hardcover.
 
Rezensent: Peter Herfurth
 
Als bestens eingeführter neuerer Schriftsteller wurde mir verschiedentlich Ian McEwan ans Herz gelegt; mit Schwarze Hunde feiert er jetzt bei mir ein Debüt, dem wohl noch mancher Titel folgen wird. 'Ich habe nie daran gezweifelt: In gewisser Weise bleibt man sein Leben lang Waise; und Kinder zu umsorgen ist eine Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen.' (S. 10) Einen Autor, der solche Sätze aufs Papier zaubert, den muß man doch ins Herz schließen, oder?
Dabei soll dem neuen Buch des 1948 geborenen Engländers eine unübersehbare Skizzenhaftigkeit konstatiert werden sowie eine gewisse Kompliziertheit im Aufbau: Erzählt wird die Geschichte einer Bewußtwerdung (oder auch einer Bekehrung) und deren Konsequenzen für das Leben einer - bis zu diesem Zeitpunkt - jungen Kommunistin, ihres materialistisch gesinnten Ehemannes und weiterer Angehöriger. McEwan nähert sich seiner, sagen wir, engeren Geschichte aus der Perspektive des Schwiegersohns besagter June Tremaine, vielleicht einem literarischen Alter ego des Autoren, sowie über Umwege nach Majdanek 1946 und Berlin 1989; berechtigten "Umwegen", denn überall treffen wir auf die Spuren dessen, was June Tremaine, seitdem sie auf ihrer Hochzeitsreise von zwei verwilderten Hunden angefallen wurde und nur mit knapper Not entkam, als das Böse identifiziert: Damals wußte ich es noch nicht, aber ich spürte es an meiner Furcht - diese Bestien waren Ausgeburten einer verderbten Phantasie, perverse Geister, die sich durch keine Gesellschaftstheorie erklären lassen. Das Böse, von dem ich spreche, es lebt in uns allen. Es ergreift Besitz von einem Individuum, vom Privatleben, von der Familie, und dann sind es die Kinder, die am meisten leiden. Und wenn die Bedingungen reif sind, in verschiedenen Ländern, zu verschiedenen Zeiten, bricht eine entsetzliche Grausamkeit aus, eine Heimtücke gegen das Leben, und alle sind überrascht von der Abgründigkeit des Hasses in sich selbst. Dann flaut er ab und legt sich wieder auf die Lauer. Es ist etwas in unseren Herzen. (S. 224)
Es gehört m.E. ein gerütteltes, ein geradezu fahrlässiges Maß an Borniertheit dazu, gemeinsam mit June Tremaines Ehemann Bernard ein solches Verständnis vom "Bösen" schlicht als Mystizismus zu verkürzen und abzutun; mit dem Handwerkszeug einer politisierten Soziologie allein läßt sich die Bestialität nationalsozialistischer Konzentrationslager so wenig hinreichend erklären wie die Leugnung des Massenmordes an Juden durch die Architekten von Gedenkstätten im Nachkriegspolen oder die sich in jungen Neunazis in der Bundesrepublik Deutschland manifestierenden Vernichtungsenergien.
Schwarze Hunde läßt sich als Parteinalme gegen ein sich als politisch verstehendes gesellschaftliches Handeln deuten, das die Menschen in ihrer Subjektivität aus den Augen verliert: Ich sehe schon, du denkst, ich sei verschroben. Das macht nichts. So fasse ich es nun einmal auf. Die Natur des Menschen, der Geist, die Seele, das Bewußtsein selbst - nenne es, wie du willst -, am Ende ist es das einzige, womit wir arbeiten können. Es muß sich entfalten und erweitern, oder die Summe unseres Leidens wird niemals geringer. Meine eigene kleine Entdeckung besagt, daß dieser Wandel möglich ist, daß er in unserer Macht steht. Ohne eine Umwälzung unseres Seelenlebens, wie langsam auch immer, sind alle unseren großen Pläne wertlos. Die Arbeit, die wir zu leisten haben, muß uns selbst gelten, wenn wir je in Frieden miteinander leben wollen. Ich sage nicht, daß es so kommen wird. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß es das nicht tut. Aber ich sage, es ist unsere einzige Chance. (S. 224f)
Nebenbei offenbahrt dieser "Meister des latent Bedrohlichen" (Rückumschlag) auch Wohlüberlegtes zum Verhältnis von "Realität" und ihrer Nachbi ldung (nicht nur) in der Literatur: Wendepunkte sind die Erfindung von Erzählern und Dramatikern, ein unerläßlicher Mechanismus, wenn ein Leben zu einem folgerichtigen Ablauf vereinfacht, auf diesen hingeordnet wird, wenn sich aus einer Reihe von Handlungen eine Moral herauskristallisieren soll, wenn ein Publikum mit etwas Unvergeßlichem, das die Entwicklung eines Charakters bezeichnet, nach Hause geschickt werden soll. Das Licht am Ende des Tunnels, die Stunde der Wahrheit, der Wendepunkt - borgen wir diese Vokabeln nicht von Hollywood oder aus der Bibel, um einer Überfülle an Erinnerungen nachträglichen Sinn abzugewinnen? (S. 63)